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MS-Forum Dr. Weihe

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Multiple Sklerose - kurz und bündig


13 Azathioprin, Immunglobuline und Natalizumab

13.1 Azathioprin (Imurek®)

Azathioprin ist ein Krebsmittel (Zytostatikum) und hemmt die Zellteilung. Seine Wirkung ist leider nicht auf Krebszellen beschränkt, sondern betrifft alle Zellen. Bis in die 80er Jahre hinein existierten nur drei Doppelblindstudien zu diesem Medikament. Alle wiesen nur eine geringe Patientenzahl auf, und in keiner von ihnen wurde die Behandlung länger als zwei Jahre durchgeführt. Eine statistisch signifikante Wirkung wurde nicht gefunden. Mit Spannung wurde das Ergebnis einer großen neuen Studie erwartet, das 1988 im Lancet veröffentlicht wurde. Das Resultat war enttäuschend: Die Autoren konnten nicht mehr als einen „milden therapeutischen Effekt“ nachweisen. Weder das Fortschreiten der Erkrankung noch die Schubrate konnten statistisch signifikant beeinflusst werden.12 Auch eine 1991 veröffentlichte Metaanalyse von Yudkin (Gesamtauswertung aller kontrollierten Studien zur Wirkung von Azathioprin) zeigte nur eine diskrete Verminderung der Schubhäufigkeit, die erst im 2.-3. Therapiejahr deutlich wurde und nur einen fraglichen Einfluss auf das Fortschreiten der Erkrankung hatten13.

Die langjährige Anwendung ist vor allem bei jüngeren Patienten problematisch, weil mit der Einnahme des Medikaments eine verstärkte Infektanfälligkeit und ein erhöhtes Tumorrisiko verbunden ist. Beide Risiken sind im Einzelfall nicht kalkulierbar und übersteigen die leichtgradigen klinischen Vorteile.

13.2 Intravenöse Immunglobuline

Die Nebenwirkungen der Betainterferone und des Glatirameracetats (lokale Reaktionen an den Einstichstellen, grippeähnliche Symptome und die gefürchtete SPIR) können erheblich sein und schrecken viele MS-Betroffene von einem Behandlungsversuch ab. Bei den Immunglobulinen ist kaum noch mit Nebenwirkungen zu rechnen, seitdem sie in hochgereinigter Form vorliegen. Das ist die gute Nachricht – aber leider sind die Studienergebnisse nicht überzeugend. In der Arbeit von Fazekas, die 1997 im Lancet erschien, führten Immunglobuline, die einmal pro Monat in einer Dosierung von 0.15g bis 0.20g pro Kilogramm Körpergewicht i.v. gegeben wurden, zu einem geringeren Anstieg der EDSS-Werte auf der erweiterten Kurtzke-Skala als Placebo. Der Unterschied war signifikant, aber so gering, dass er klinisch keine Bedeutung hatte: In der Therapiegruppe nahm der Ausgangswert von 3.3 um 3.1 ab, unter Placebo von 3.4 auf 3.5 zu14. Kernspintomographische Untersuchungen wurden nicht durchgeführt. Noch bedenklicher ist, dass der auswertende Arzt wusste, wer Immunglobuline bekam und wer nicht.

13.3 Natalizumab (Tysabri®) – ein neues Therapieprinzip weckt Hoffnungen.

Zu den besonderen Merkmalen von MS-Herden gehört, wie wir bereits wissen, dass sich in ihrem Zentrum immer eine Vene befindet. Nach einer zur Zeit sehr einflussreichen MS-Theorie sollen sich auch im Blut jedes Gesunden Lymphozyten befinden, die gegen die eigene weiße Hirnsubstanz gerichtet sind. Diese können aber solange keinen Schaden anrichten, wie sie von der Blut-Hirn-Schranke daran gehindert werden, ins Gehirn einzudringen. Wenn diese Lymphozyten jedoch im Blut aktiviert werden (warum und wie das geschieht, ist nicht bekannt), bilden sie an ihrer Oberfläche einen „Enterhaken“ aus, mit dem sie sich an der Gefäßinnenhaut von Hirnvenen anheften können, um dann durch die Venenwand hindurch ins Gehirn geschleust zu werden. Wissenschaftlich gesprochen ist der „Enterhaken“ ein Adhäsionsmolekül (adhaerere = anhaften), das zur Klasse der Integrine gehört. Es kann durch einen Antikörper, das Natalizumab (Tysabri®), blockiert werden, so dass die Lymphozyten im Blut bleiben und ihr Angriffsziel im Gehirn nicht erreichen.

Im November 2004 wurden die Einjahresergebnisse der sogenannten AFFIRM-Studie bekannt gegeben. Sie zeigte, dass Natalizumab die Schubrate im Vergleich zu Placebo um 66% senkt. Obwohl die Studie auf zwei Jahre angelegt war, war die amerikanische Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) von den vorläufigen Resultaten so beeindruckt, dass sie das Medikament im Schnelldurchgang für die USA zuließ. Aber dann machten im März 2005 Berichte von drei Patienten Schlagzeilen, die unter einer Therapie mit Tysabri® an der seltenen progressiven multifokalen Leukoencephalopathie (PML) erkrankt waren. Daraufhin wurde das Medikament von den Herstellern Biogen Odec und Elan Pharmaceuticals in den USA freiwillig vom Markt genommen.

Die PML ist eine meist tödlich verlaufende Hirnkrankheit. Ihr liegen zum Teil herdförmige, zum Teil flächenhafte Entmarkungen des Gehirns und des Rückenmarks zugrunde, die sich stürmisch entwickeln und gewisse Ähnlichkeiten mit der akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM) aufweisen, aber wie diese nichts mit der MS zu tun haben. Zu den Symptomen gehören eine rasch fortschreitende Demenz, mannigfache Herdsymptome und Para- und Tetraparesen. Die Erkrankung endet meist bereits nach wenigen Monaten im Koma. Im Gegensatz zur MS finden sich keine Entzündungszeichen im Liquor. Der Erreger ist das JC-Virus. Es hat seinem Namen von den Initialen des ersten Patienten, bei dem es 1972 nachgewiesen werden konnte, und gehört zur Gruppe der eigentlich völlig harmlosen Polyoma-Viren, von denen etwa 80% der Normalbevölkerung befallen sind, ohne dass es jemals zu Krankheitszeichen kommt. Nur bei einer ausgeprägten Immunschwäche, zum Beispiel bei AIDS oder unter einer massiven immunsuppressiven Behandlung nach Organtransplantation kann es reaktiviert werden und eine PML verursachen. Vieles spricht dafür, dass sie über Leukozyten ins ZNS gelangen und hier vor allem die Oligodendrozyten befallen, in denen sie sich einnisten und zunächst einmal in einen Dornröschenschlaf fallen.

Nach einer umfangreichen Re-Analyse aller verfügbaren Daten von mehr als 3000 mit Tysabri® behandelten Patienten wurde die Substanz Mitte 2006 wieder zugelassen – jetzt auch in Deutschland, und zwar

  1. bei Patienten mit MS mit hoher Krankheitsaktivität, die nicht mehr ausreichend auf eine Behandlung mit Beta-Interferonen ansprechen, oder
  2. bei Patienten mit schubförmiger MS, die eine rasche Verschlechterung erleiden.

Zusätzlich gilt: Niemand, der Tysabri® erhält, darf zusätzlich mit Betainterferonen oder anderen Immunmodulatoren bzw. –suppressiva behandelt werden.

Viele MS-Betroffenen haben sich Zulassung herbeigesehnt. Anstelle der unangenehmen und nebenwirkungsreichen Spitzerei dreimal pro Woche gibt es hier die Möglichkeit, sich mit einer gut verträglichen Infusion einmal pro Monat behandeln zu lassen, und dies mit der Aussicht, dass das Medikament wesentlich wirksamer ist als die Betainterferone. Wie steht es aber mit den Risiken?

Zur Zeit muss man noch davon ausgehen, dass das Risiko einer PML bei 1:1000 in 18 Monaten liegt. Wahrscheinlich ist es aber ohne gleichzeitige Gabe von Avonex® sehr viel geringer. Tatsächlich ist es unter Tysabri® allein bisher zu keiner PML-Erkrankung gekommen. In zwei Fällen war zusätzlich Avonex® gespritzt worden, und der dritte Patient, hierbei handelte es sich um einen Morbus Crohn-Patienten, hatte zuvor verschiedene Immunsuppressiva eingenommen.

Ob es etwas ausmacht, wenn man vor der Behandlung immunmodulatorisch mit Betainterferonen behandelt worden ist, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob das Risiko durch die Cortisonbehandlung eines frischen Schubes erhöht wird. Was aber man meisten schreckt, ist, dass wir nur das Risiko für die ersten zwei Jahre kennen. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit. Niemand weiß, wie hoch das Risiko für eine PML ist, wenn man sich fünf oder zehn Jahre mit Tysabri® behandeln lässt. Insofern bleibt die Behandlung ein Spiel mit dem Feuer.


12 British and Dutch Multiple Sclerosis Azathioprine Trial Group. Lancet 1988; II: 179-83
13 Yudkin PL, Ellison GW, Ghezzi A e.a. Overview of azathioprine treatment in multiple sclerosis. Lancet 1991;338:105-15.
14 F Fazekas e.a.: Lancet 1997; 349: 589-93

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