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MS-Forum Dr. Weihe

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Multiple Sklerose - kurz und bündig


12 Glatirameracetat (Copaxone®)

Viele Patienten vertragen die Betainterferone nicht, sei es wegen der grippeähnlichen Nebenwirkungen, der Verstärkung von Depressionen oder weil sie keine gesunde Stelle mehr auf ihrer Haut finden. Für sie schien die Zulassung von Glatirameracetat (Copaxone®) ein Geschenk des Himmels zu sein. Wegen seiner deutlich geringeren Nebenwirkungen bot es sich auch geradezu an, bei Neuerkrankten als Mittel der I. Wahl eingesetzt zu werden.

12.1 Was ist Copaxone?

Ich hatte darüber berichtet, dass man bei Tieren eine „künstliche MS“, die sogenannte experimentelle allergische Encephalomyelitis (EAE) auslösen kann, indem man ihnen artfremdes Myelin spritzt. Die Erfolgsrate ist allerdings sehr mager. Darum suchte man nach einer effizienteren Methode und kam schließlich darauf, das Myelin zu analysieren und die häufigsten darin vorkommenden Aminosäuren zu bestimmen. Dabei handelt es sich um Glutaminsäure, Lysin, Alanin und Tyrosin im Verhältnis 1,9:4,7:6,1:1,0. Nun ließ man sie in genau diesem Verhältnis miteinander reagieren, und es entstand ein Gemisch aus zufällig miteinander verketteten Aminosäuren, das man nach den Anfangsbuchstaben der beteiligten Substanzen GLATirameracetat nannte.

n der Hoffnung, auf diese Weise ein besonders wirksames Antigen entwickelt zu haben, um Lymphozyten gegen die weißen Hirnsubstanz zu „allergisieren“, wurde Versuchstieren Glatirameracetat gespritzt – aber das Ergebnis war enttäuschend: Die Tiere blieben gesund. Da Versuchstiere nicht billig sind, wollte man sie später wieder benutzen, um bei ihnen auf konventionelle Weise, also mit dem Freundschen Adjuvans, eine EAE zu erzeugen, aber jetzt stellte sich heraus, dass sie erstaunlicherweise immun geworden waren. Man hatte also eine Substanz entwickeln wollen, die eine EAE erzeugt, und nun erwies es sich, dass sie davor schützte. Nach Experimenten an Pavianen, die das Ergebnis bestätigten, wurde Glatirameracetat auch an Menschen ausprobiert, und eine große Studie zeigte, dass das Medikament, das den Namen Copaxone® erhielt, wie die Betainterferone die Schubrate um ein Drittel senkt und auch auf die kernspintomographischen Veränderungen einen ähnlichen Effekt hat. Der genaue Wirkungsmechanismus ist nicht bekannt. Man kann nur vermuten, dass Glatirameracetat die Lymphozyten davon ablenkt, das Myelin anzugreifen.

12.2 Welche Nebenwirkungen hat Copaxone®?

Copaxone® wird einmal täglich unter die Haut gespritzt. Die Nebenwirkungen sind geringer als bei den Betainterferonen, vor allem kommt es zu keinen grippeähnlichen Symptomen. An erster Stelle sind lokale Reaktionen an den Einstichstellen in Form von Schwellung, Juckreiz und Entzündung und Verhärtung zu nennen. Erwähnenswert ist weiterhin die sogenannte Postinjektionsreaktion (SPIR = spontaneous post injection reaction): Bei etwa einem Fünftel der Patienten tritt mindestens einmal unmittelbar nach der Injektion eine anfallsartige Gesichtsrötung mit Herzjagen auf, die zwar nur wenige Minuten anhält, aber mit einer so heftigen Todesangst einhergeht, dass sich einige Patienten, die das einmal erlebt haben, nicht mehr trauen, das Medikament weiterzuspritzen. Möglicherweise ist diese Reaktion durch die versehentliche Injektion in eine kleine Hautvene bedingt.

12.3 Die Ergebnisse der Metaanalyse der Cochrane-Gruppe

2004 hat die Cochrane-Collaboration auch alle randomisierten und placebokontrollierten Studien, die zu Copaxone® existieren, unter die Lupe genommen. Dabei wurden die Daten von 646 Patienten mit klinisch sicherer MS berücksichtigt. Abschließend kamen die Autoren zu einem wenig ermutigenden Urteil, das noch ungünstiger als das über die Betainterferone ausfiel: „Es konnte kein günstiger Effekt von Glatirameracetat auf die Krankheitsprogression nachgewiesen werden, und das Medikament verringert das Risiko von Schüben nur unwesentlich. Darum kann der Routineeinsatz in der klinischen Praxis derzeit nicht empfohlen werden.“11

Wenn die Wirksamkeit der Betainterferone schon zweifelhaft ist, ist die von Glatirameracetat noch unsicherer. Darum würde ich in Fällen mit hoher Herdproduktionsrate immer einen Behandlungsversuch mit Betainterferonen (und unter den Betainterferonen mit Rebif®) beginnen. Auch ein Umstellen auf Copaxone®, wenn Betainterferone unwirksam sind oder nicht vertragen werden, halte ich für wenig erfolgversprechend.


11 Munari L, Lovati R, Boiko A. Therapy with glatiramer acetate for multiple sclerosis (Cochrane Review). In: The Cochrane Library, Issue 1, 2004. John Wiley & Sons, Ltd., Chichester, UK

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