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MS-Forum Dr. Weihe

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Multiple Sklerose - kurz und bündig


16 MS und Psyche

16.1 Vom Saulus zum Paulus

Als junger Arzt wäre ich nicht auf die Idee gekommen, einen Zusammenhang zwischen einer seelischen Belastung und dem Ausbruch einer MS zu sehen – das änderte sich schlagartig, als ich Herrn M. kennenlernte.

Herr M. hatte den großen Bauernhof seines Vaters übernommen. Wegen einer Kleinigkeit kam es zu einem dramatischen Streit. Der Vater hatte dem Sohn ein holzgeschnitztes Schild mit der Aufschrift „Tritt ein, bring Glück herein“ geschenkt, das dieser über seiner Tür anbringen sollte. Als er sich weigerte, weil es ihm zu kitschig war, bekam der Vater, der schon immer zum Jähzorn geneigt hatte, einen Wutanfall und bedrohte den Sohn und dessen Familie mit einer geladenen Schrotflinte. Schließlich musste er mit Polizeigewalt in das nahegelegene psychiatrische Krankenhaus eingeliefert werden. Nachdem er sich dort beruhigt hatte, wurde er wenige Tage später entlassen. Aber in seinem Zorn ruhte er nicht eher, bis er einen Journalisten fand, der in einem Revolverblatt einen Artikel gegen den Sohn schrieb, der auf heimtückische Art versucht habe, den eigenen Vater für geisteskrank zu erklären. Aber das war noch nicht alles. Sieben Tage, nachdem der Artikel erschienen war, fuhr dem jungen Mann ein guter Bekannter von hinten in den Trecker und war sofort tot. Der Staatsanwalt erhob Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Drei Wochen später erlitt Herr M. den ersten Schub einer MS.

Es ist schon lange her, dass mir Herr M. seine Geschichte erzählte. Damals war ich noch überzeugt, dass körperliche Krankheiten körperliche Ursachen und seelische Krankheiten seelische Ursachen haben. Aber diese Geschichte hatte mich nachdenklich gemacht. Der kerngesunde, kräftige junge Mann war bestimmt kein typischer MS-Patient. Warum war gerade er erkrankt? Gab es einen Zusammenhang zwischen der Serie von hochgradig belastenden Ereignissen und dem Ausbruch der MS? Aber die MS ist doch sicher keine psychogene Erkrankung, ging es mir durch den Kopf. Schließlich fragte ich eine meiner Patientinnen, Frau Th., die seit mehr als 15 Jahren an einer MS erkrankt ist. Für sie war das nichts Neues. „Wussten Sie das wirklich noch nicht, Doktor?“, sagte sie. „Ich will Ihnen mal erzählen, wie es bei mir war:

Meine Kinder waren damals sieben und neun Jahre alt und hatten mir zwanzig Mark aus dem Portemonnaie gestohlen. Zur Strafe, habe ich gesagt, dürft ihr am Sonntag nicht zur Großmutter. Als wir dann am Sonntagnachmittag spazierengegangen sind, läuft der Neunjährige über eine Straße, der Siebenjährige dreht sich noch einmal zu uns um, winkt uns zu, geht rückwärts auf den Fahrdamm, wird von einem Auto erfasst, durch die Luft geschleudert und ist sofort tot. Mein Mann fängt an zu trinken, meine Mutter macht mir Vorwürfe: Das wäre alles nicht passiert, wenn du den Kindern nicht verboten hättest, zu mir zu kommen. Und einen Monat später habe ich den ersten Schub gekriegt.“

Für Frau Th. war der Zusammenhang schon immer klar gewesen. Aber sie hatte nie mit Ärzten darüber gesprochen, weil sie sich nicht dafür interessierten. Zum ersten Mal in meinem Leben fragte ich mich, in wie weit die extreme Belastung an ihrer Widerstandskraft gezehrt haben könnte. Vielleicht ruht der Keim der MS in vielen Menschen, aber er macht sich nie bemerkbar, weil die Abwehrkräfte des Körpers ihn im Zaum halten. Wenn es nun aber in außergewöhnlichen Situationen zu einer Schwächung der Abwehr kommt, dann kann auch eine harmlose Form der Krankheit „wild“ werden. Das hieße, wäre das Leben von Herrn M. oder Frau Th. in normalen Bahnen weitergelaufen, wären sie möglicherweise nie erkrankt. Diese Überlegung hat für mich eine große Bedeutung erlangt.

16.2 Ist die MS eine „psychosomatische“ Krankheit?

Seit der Romantik stehen sich in der Medizin „Psychiker“ und „Somatiker“ feindselig gegenüber. Die Somatiker (so behaupten die Psychiker) sehen den menschlichen Körper als eine Maschine an und halten dementsprechend Krankheiten für einen Schaden, den man naturwissenschaftlich erkennen und naturwissenschaftlich reparieren kann. Die Psychiker (sagen die Somatiker) haben die schwärmerische Auffassung, es gäbe so etwas wie eine körperlose Seele, die auf geheimnisvolle Weise auf den Organismus einwirke, ihn krank mache, wenn sie selbst leide, und verborgene Heilungskräfte fördere, wenn sie sich wohl fühle. Die Somatiker empfinden sich als rational denkende Menschen, dasselbe tun die Psychiker – wenn sie auch überzeugt sind, dass die Somatiker ihren Verstand weit überschätzen.

Wie unter den Ärzten ist es unter den Patienten. Die „Psychiker“ sind sicher, dass ihre MS durch seelische Belastungen beeinflusst wird, indem sich ihre Symptome unter Stress verstärken und ihre Schübe, ja sogar der Ausbruch der Erkrankung, im Zusammenhang mit schweren seelischen Krisen stehen. Die „Somatiker“ lehnen jede Beziehung zwischen MS und Psyche rigoros ab. Sie empfinden es als „Psycho-Mythologie“, wenn behauptet wird, die Aktivität einer Krankheit könne durch seelisches Wohlbefinden positiv und durch finanzielle Sorgen, Ehekonflikte oder eine berufliche Überlastung negativ beeinflusst werden. Sie möchten nicht für etwas verantwortlich gemacht werden, was sie der Willkür eines blinden und unbarmherzigen Schicksals zuschreiben, während die „Psychiker“ gerade darin eine Chance sehen, den Verlauf der Erkrankung durch eine Veränderung ihrer Lebensverhältnisse steuern zu können.

Bild: Psychosomatik
Abbildung: Das Spektrum von überwiegend seelisch bis hin zu überwiegend körperlich bedingten Krankheiten, wobei die meisten Krankheiten beide Anteile in unterschiedlicher Mischung haben.

Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Es gibt wenige Krankheiten, die rein organisch, und wenige Krankheiten, die rein psychisch verursacht werden. Zu den ersteren gehören Erbkrankheiten wie die Chorea Huntington, und meiner Ansicht nach auch Hirntumore, am anderen Ende stehen natürlich die Neurosen, aber auch ganz nah dabei die Migräne, der Tinnitus und andere psychovegetative Beschwerden. Die meisten Krankheiten stellen jedoch eine Mischung aus körperlichen und seelischen Anteilen dar.

Bild: Life Events
Abbildung: Nur 2 von 10 belastenden Lebensereignissen („life events“) führen zu einem Schub, aber 7 von 10 „life events“ zu einem frischen Herd.

16.3 Kann Stress Schübe auslösen?

Wie ist die Studienlage? Man kann sie nicht anders als widersprüchlich bezeichnen. Das hat zum einen etwas damit zu tun, dass die MS eine sehr individuelle Krankheit ist, und es zum Wesen des Individuellen gehört, dass es sich einer statistischen Erfassung entzieht. Es ist also schwer vorherzusagen, wie sehr sich ein Mensch Stress am Arbeitsplatz, Schikanen durch einen unangenehmen Vorgesetzten oder den Tod von nahen Familienangehörigen zu Herzen nimmt. Das heißt, der von außen wahrgenommene Schweregrad einer Belastung steht oft in keinem Verhältnis dazu, wie diese subjektiv wahrgenommen wird, und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einem „objektiven“ Grad einer Belastung zu sprechen? Sogar der Tod eines Elternteils wird ganz unterschiedlich erlebt, abhängig davon, wie man zu Mutter oder Vater gestanden hat, und ob er plötzlich und unerwartet oder nach langem Leiden auftritt. Weiterhin spielt die religiöse Einstellung eine wesentliche Rolle.

Es gibt aber noch einen wesentlich überzeugenderen Grund, der erklärt, warum in der Vergangenheit alle Versuche scheitern mussten, einen Zusammenhang zwischen MS und Stress nachzuweisen. Erst in den letzten Jahren ist es richtig ins Bewusstsein gedrungen, dass Schübe und Entzündungsherde im Gehirn nicht gleichgesetzt werden können: Nur etwa jeder 10. frische Herd führt zu wahrnehmbaren Symptomen im Sinne eines Schubes. Grob vereinfacht heißt das: Wenn zehn MS-Betroffene einer schweren seelischen oder körperlichen Belastung ausgesetzt sind, wird vielleicht in jedem Fall ein frischer Herd auftreten, aber nur einer davon mit klinisch nachweisbaren Symptomen reagieren – und dieser eine fällt statistisch natürlich unter den Tisch.

Dass es sich hierbei keineswegs um eine theoretische Erwägung handelt, zeigt die Arbeit von D. C. Mohr, die 2000 in Neurology erschien: 36 Patienten mit einer schubförmigen MS wurden einmal pro Monat über 28 bis zu 100 Wochen folgenden Untersuchungen unterzogen: einem Kernspintomogramm mit Gadolinium und einer Reihe von psychologischen Tests und Fragebögen mit dem Schwerpunkt auf belastenden familiären oder beruflichen Ereignissen. Das überraschende Ergebnis war: Die Wahrscheinlichkeit, dass 4 bis 8 Wochen nach einer seelisch belastenden Situation frische Herde auftraten, war hochsignifikant erhöht, während die Schubrate anscheinend keinen Zusammenhang mit den seelischen Belastungen zeigte.17

„Guter“ und „schlechter“ Stress

Stress ist ein weites Feld. Man kann großen Stress haben wie nach dem Kriegsende die Trümmerfrauen und jeden Abend todmüde ins Bett fallen - aber die Anstrengung erhält einen fit. Auf der anderen Seite kann der Stress unauffällig und geradezu „normal“ sein, wenn jemand im Alltagstrott jeden Tag pünktlich um 8 Uhr in sein Büro geht, immer dieselben Akten wälzt, aber von Jahr zu Jahr einen zunehmenden Widerwillen entwickelt und unter der Sinnlosigkeit seines Tuns und den Launen seines Chefs leidet. Nichts Spektakuläres, aber die Fehlzeiten wegen Kopfschmerzen, Magenbeschwerden oder banalen Infekten häufen sich. Eine Frau kann ihren Mann und kurz darauf das eigene Kind verlieren und gesund bleiben. Eine andere wird krank, wenn die Tochter in der Schule sitzenbleibt. Versuchen wir nicht immer Gründe zu finden, auch wenn es keine gibt? Gleicht das nicht dem Wahrnehmen von bärtigen Gesichtern oder einem springenden Pferd in den Wolken?

Was ist das Wesen des „schlechten“, krankmachenden Stresses? Ich denke, es ist die Hilflosigkeit. Es gibt ein eindrucksvolles Experiment. Einem Rhesusaffen wird eine nicht allzu schwere Entscheidung angesichts von nur zwei Möglichkeiten abverlangt: Der Affe muss einen Knopf drücken, wenn ein bestimmtes Bild erscheint, und er muss einen zweiten Knopf drücken, wenn ein anderes Bild erscheint. Wenn er etwas falsch macht, bekommt er einen leichten elektrischen Schlag. Ein anderer Affe sitzt daneben und schaut einfach nur zu, erhält aber dieselben Schläge. Der zweite Affe, welcher der Situation hilflos ausgeliefert ist, erkrankt in kurzer Zeit an Hochdruck, Magengeschwüren und Infarkten. Der erste Affe bleibt gesund!

16.4 Psychoimmunologie

Bleibt die Frage, wie sich Stress oder Traurigkeit auf unser Immunsystem auswirken können. Bis vor kurzem hatte man Lymphozyten für relativ engstirnige Kugeln gehalten, deren Oberfläche mit Rezeptoren bestückt ist, die nichts anderes als körperfremdes von körpereigenem Gewebe unterscheiden können. Aber dann fiel auf, dass die Milz, die eine herausrragende Rolle in der Immunabwehr spielt, reich mit sympathischen Nervenfasern versorgt ist. Besonders interessant war auch, dass die Nervenendigungen von Lymphozyten umlagert waren wie ein Bahnhof von Taxis. Warum eigentlich, denn bisher war man immer davon ausgegangen, dass keine Kommunikation zwischen dem Immunsystem und dem Nervensystem stattfindet. Als man genauer nachschaute, entdeckte man, dass die Lymphozytenoberfläche neben den Rezeptoren zusätzlich mit Antennen übersät ist, die auf Stresshormone, aber auch auf Endorphine ansprechen. Lymphozyten sind also wesentlich intelligenter, vor allem aber sensibler als man bisher angenommen hatte, und stellen ein wichtiges Zwischenglied zwischen Seele und Körper dar.

16.5 Bin ich an meiner Krankheit selber schuld?

Heißt das, jeder MS-Betroffene sei im Grunde genommen selbst an seiner Krankheit schuld? Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen, als werde mit dieser Sichtweise einem Menschen, der sowieso schon unter der Zentnerlast einer bedrohlichen Krankheit leidet, nur noch eine zusätzliche Bürde aufgeladen. Ende der 70er Jahre erschien ein einflussreicher Essay mit dem Titel „Krankheit als Metapher“. Er stammte von Susan Sontag, der kürzlich verstorbenen amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin, die an Brustkrebs erkrankte und sich auf Anraten ihrer Freunde auch an einen Psychotherapeuten wandte. Was sie dort am meisten erbitterte, war das Gefühl, der Therapeut unterstelle, es sei kein Zufall, dass gerade sie zu genau diesem Zeitpunkt von genau dieser Krankheit befallen worden sei.

Sie fühlte sich auf einmal nicht nur wegen der düsteren Prognose ihrer Krankheit verzweifelt, sondern zusätzlich schuldig und sie schämte sich, krank zu sein. Sie beschreibt, wie man versucht habe, ihr einzureden, dass Krebs eine Krankheit sei, zu der vor allem seelisch Angeschlagene neigen. All das kam ihr ungerecht und einseitig vor. Sie sehnte sich nach einem Arzt, der ihre Krankheit als eine Krankheit betrachtete, als eine ernste Krankheit zwar, aber als eine Krankheit, weder als Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Eine Krankheit ohne tiefere „Bedeutung“.

16.6 Der Erreger ist (möglicherweise) nicht die Ursache.

Ich denke, dass Susan Sontag mit ihrer bewegenden Darstellung zum Teil Recht hat, und ich kann ihre Ablehnung einer übertriebenen Form der Psychologisierung gut verstehen. Sie meint, dass eine große Neigung bestehe, zufällige Begleitumstände überzuinterpretieren, wenn man die wirklichen Ursachen nicht kenne, wie das z.B. beim Magengeschwür passiert sei. Jahrzehntelang habe man Stress und hinuntergeschluckten Ärger als Ursache angenommen und erst jetzt habe sich herausgestellt, dass es ein Bakterium, der Helicobacter, sei. Und genau so (sagen Hardliner) wird es bei der MS sein: Irgendwann einmal im 21. Jahrhundert wird man den Erreger entdecken und alles Gerede von Psychosomatik und gesunder Lebensweise wird sich als falsch und unangemessen erweisen.

Ich bin nicht sicher, ob es so sein wird. Es wäre denkbar, dass der gesuchte MS-Erreger nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung dafür ist, ob jemand erkrankt. Vielleicht ist der Erreger der MS an sich völlig harmlos, kommt überall vor und befällt nahezu jeden von uns. Schaden kann er nur dann stiften, wenn mehrere unglückliche Umstände zusammentreffen.

Ein Beispiel ist die Endocarditis lenta, die gefürchtete Entzündung der Herzinnenwand. Der Erreger ist der vergrünende Streptococcus, der bei jedem Menschen ein harmloser Bewohner der Mundhöhle ist. Immer wieder gelangen einige Bakterien ins Blut, werden aber dort sofort vom Immunsystem angegriffen und vernichtet. Nur unter ganz ungünstigen Bedingungen, wenn die Abwehrkräfte daniederliegen, kann es passieren, dass sich ein Bakterium auf einer Herzklappe ansiedelt, sich dort vermehrt und diese zerstört. Zwar ist der Erreger der vergrünende Streptococcus, aber der eigentliche Grund für die Erkrankung ist die Abwehrschwäche.

16.7 Psychotherapie bei MS?

Peter G. ist ein sportlicher, durchtrainierter junger Mann von ruhigem Wesen und sicherem Auftreten. Seine bildhübsche Frau leitet ein Bodybuilder-Center. Er hat eine klinisch sichere MS: Das Kernspintomogramm zeigt drei verdächtige periventrikuläre Herde, und die oligoklonalen Banden sind positiv. Jetzt stellt er eine Ungeschicklichkeit in der linken Hand fest, die ihn als Vorarbeiter in einem Sägewerk nicht nur beeinträchtigt, sondern auch gefährdet. Er ist glücklich verheiratet, das sieht man, und hat einen Beruf, der ihm nicht nur Anerkennung bringt, sondern ihm auch Freude macht. Aber es musste irgend etwas geben, dass an seiner Widerstandskraft zehrte, aber ich kam nicht darauf.

Wenn ich nach auslösenden Faktoren fahnde, pflege ich systematisch vorzugehen. In der Regel beginne ich damit, die sechs häufigsten „Risikofaktoren“ abzufragen: 1. Hausbau; 2. eine Schwiegermutter im Haus, die überall ihre Nase hineinsteckt; 3. Kinder in der Pubertät; 4. ein pflegebedürftiges Familienmitglied (z.B. Alzheimer der Mutter); 5. schlechtes Klima am Arbeitsplatz und 6. (drohende) Arbeitslosigkeit.

Ich halte nicht viel von einer Psychologisiererei, die Erklärungen an den Haaren herbeizieht, aber manchmal sieht man das Nächstliegende nicht. Deshalb erzähle ich, wenn ich so nicht weiterkomme, gern die Geschichte von dem Bundeswehroffizier, der unter heftigen Migräneattacken litt, die zwei- bis dreimal pro Woche auftraten. Man hatte alles, aber auch wirklich alles ausprobiert, aber nichts hatte geholfen. So blieb zum Schluss nur noch eins übrig: das Leben des Mannes detektivisch zu durchforsten, um zu schauen, ob nicht doch irgendwelche Ursachen vorhanden waren, die er vielleicht vergessen hatte. Und so kam er jeden Mittwoch, pünktlich um 14 Uhr und erzählte mir aus seinem normalen, völlig durchschnittlichen Leben. Es war todlangweilig, und nach der dritten Sitzung wollte ich das Unternehmen abbrechen. Doch dann erzählte er mir ganz nebenbei, dass, als er geboren wurde, sein Vater an der Front war und es sich rein rechnerisch ergab, dass sein Vater nicht sein Vater sein konnte. Als dieser zurückkam, verstieß er seine Frau, zog seine beiden Söhne allein auf und verbot ihnen jeden Kontakt mit ihrer Mutter. Obwohl dieser Mann seit 37 Jahren in demselben kleinen Dorf wie seine leibliche Mutter wohnte, ihr auf der Dorfstraße begegnete, im Edeka-Laden hinter ihr stand, hatte er sie in seinem ganzen Leben noch nicht einmal gegrüßt! Das ist doch wirklich merkwürdig. Da suchte ich also seit Wochen nach einer psychologischen Erklärung, aber diese ungewöhnliche Geschichte hatte er mir bis jetzt verschwiegen.

Ich erzählte sie auch Herrn G.

„Können Sie sich denken, warum er mir das verschwiegen hat?“, frage ich Herrn G.

„Vielleicht, weil es ihm peinlich war.“

„Nein, das war es nicht. Der wahre Grund ist ein anderer. Das schwer gestörte Verhältnis zu seiner Mutter war für ihn das Selbstverständlichste von der Welt. Er kannte es ja seit seiner frühesten Kindheit nicht anders. Und so war er gar nicht darauf gekommen, dass es eine Bedeutung haben könnte.“

„Und Sie meinen, bei mir könnte auch so etwas versteckt sein.“

„Zumindest sollte man daran denken. Oft findet man es selbst nicht, und man braucht jemanden, der einen auf etwas ganz Verrücktes aufmerksam macht. Zum Beispiel meine Tante Alma. Sie hatte noch in gereifterem Alter den Führerschein gemacht und sich ein flottes rotes Kabriolett gekauft. Nach einem Monat war der Motor kaputt, und es wurde ein Austauschmotor eingebaut. Zwei Monate später hatte auch der Austauschmotor seinen Geist aufgegeben, und der dritte Motor hielt ebenfalls nicht lange. Um der Sache auf den Grund zu gehen, schlug der Mechaniker eine Probefahrt mit ihr vor. Als sie eingestiegen war, zog sie den Choke, hängte ihre Handtasche daran und fuhr los. Sie hatte die ganze Zeit den Choke für eine Art Haken gehalten und war nie auf die Idee gekommen, ihn wieder hineinzudrücken, wenn der Motor warm war.“

Ich glaube, so ganz habe ich Herrn G. nicht überzeugen können. Aber am nächsten Nachmittag rief seine Frau an.

„Mein Mann weiß nicht, dass ich Sie anrufe“, sagte sie. „Aber nach dem gestrigen Gespräch muss ich Ihnen doch etwas sagen. Wir hatten tatsächlich eine ganze Menge Ärger, als er vor drei Jahren den ersten Schub bekam. Er hat es Ihnen nur nicht gesagt, weil er mir nicht weh tun wollte."

„Was ist denn damals passiert?“

„Wir hatten zusammen in einer ehemaligen Tankstelle eine Imbissbude aufgemacht. Das Geschäft lief gut, und es bot sich an, meinen Vater als Aushilfe zu beschäftigen, da mein Mann seinen Beruf noch nicht ganz aufgeben wollte. Als wir ein Jahr später Konkurs anmelden mussten, stellte sich heraus, dass mein Vater uns um mehr als sechzigtausend Mark betrogen hatte.“

„Ihr eigener Vater?“

„Ja. Bis zum heutigen Tag kommen immer noch offenstehende Rechnungen zu uns nach Hause.“

Ich denke, es ist häufig so: Die wirklichen Tragödien werden nicht erzählt, weil man sie vergessen hat, weil man niemanden belasten möchte, oder weil es einfach zu weh tut. „Da ist endlich Gras über die Sache gewachsen“, sagte einmal eine Patientin zu mir, „und dann kommt so ein Kamel und frisst es ab.“ Mit dem Kamel meinte sie mich. Trotzdem, manchmal können alte Wunden erst zur Ruhe kommen und heilen, wenn sie noch einmal gründlich gesäubert worden sind. Eugen Drewermann hat das einmal sehr schön so beschrieben: „Ganz hinten im Keller, wo man nie hinkommt, geht es noch einmal fünf Stufen hinab und du stehst vor einer Tür, die du noch nie geöffnet hast und hinter der es spukt. Du weißt, dass es an der Zeit ist, die Tür zu öffnen, aber du brauchst jemanden, der dir zur Seite steht. Ich helfe dir. Wir schauen es uns gemeinsam an, es gehört ja zu dir. Natürlich, du hast es verdrängt, und du wirst auch deine Gründe dafür gehabt haben. Aber vielleicht ist es wie im Märchen und in dieser Kammer ist ein Schatz verborgen, bewacht von einem bösen Dämon, der aber nicht unbesiegbar ist.“

16.8 Einzel- oder Gruppentherapie?

Es ist immer dasselbe. Wenn ich ganz vorsichtig mit meinen Patienten über die möglichen Vorteile einer Psychotherapie spreche (und ich gehe wirklich auf die behutsamste Weise vor), dann kommt als erstes „Aber ich bilde mir meine Krankheit doch nicht ein“ und dann „Meinen Sie etwa, ich wäre selbst schuld daran, dass ich eine MS bekommen habe?“ und schließlich „Sie glauben wohl nicht, dass ich es allein schaffe?“ Natürlich bilden sich die Betroffenen ihre Krankheit nicht ein, und natürlich haben sie keine Schuld daran, dass sie krank geworden sind, aber in Bezug auf den dritten Punkt kann es tatsächlich schwierig sein, sein Leben ohne Hilfe von außen zu ändern, sich auf die Krankheit einzustellen und mit den oft verständnislosen Reaktionen der Umwelt fertigzuwerden. „Manchmal drehen sich die Gedanken in meinem Kopf wie in einer Windmühle“, klagte eine meiner Patientinnen. „Schaffe ich meine Arbeit noch? Soll ich mich berenten lassen? Wie mache ich es meinen Kindern klar, dass ich mittags zwei Stunden Ruhe brauche? Wie gehe ich mit meiner Schwiegermutter um, die es gut mit mir meint, aber mich mit ihren Ratschlägen nervt? Wer hilft mir bei meinen Ängsten, dass man Mann mich verlassen könnte? Sind meine sexuellen Probleme Folge der seelischen Belastung oder kommen sie von der MS?“

Insofern bricht einem keine Zacke aus der Krone, wenn man vorübergehend die Hilfe von Spezialisten in Anspruch nimmt. Ob eine Einzeltherapie oder eine Selbsterfahrungsgruppe geeigneter ist, müssen Sie zusammen mit Ihrem Therapeuten entscheiden. Eine Einzeltherapie kann am Anfang sinnvoll sein. Sie kann Schutz, Trost und Verständnis geben, läuft aber Gefahr, über kurz oder lang in eine Sackgasse zu geraten, in der immer wieder dieselben Probleme besprochen werden. Manche klagen auch darüber, dass sie sich den persönlichen Einstellungen des Therapeuten ausgeliefert fühlen. Die Einzeltherapie hat etwas Inselhaftes und kann realitätsfern sein.

Ganz anders die Gruppenpsychotherapie. Sie besteht in der Regel aus sechs bis acht Patienten und einem Therapeuten bzw. einer Therapeutin. Die Gruppe kann ein vielköpfiges Ungeheuer sein und ist sehr anstrengend, dafür aber auch besonders wirksam. Viele werden vielleicht sagen: „Ich habe schon Probleme genug. Da will ich mich nicht noch mit denen von anderen Menschen belasten.“ Das ist sicher richtig, aber Sie werden rasch erkennen, dass die Probleme, die andere Menschen haben, den Ihren sehr ähnlich sind, und dass Sie viel dadurch lernen können, wie andere damit umgehen, wie sie diese lösen oder welche Fehler sie machen. Außerdem haben Sie die einzigartige Möglichkeit, eine Vielzahl von Meinungen zu Ihren Problemen zu hören, was üblicherweise auch mit Ihren Freunden und Freundinnen nicht möglich ist, weil man aus Höflichkeit nicht ganz offen ist oder aus Scham über bestimmte Dinge nicht spricht.


17 Mohr DC e.a. Psychological stress and the subsequent appearance of new brain MRI lesons in MS. Neurology 2000; 55: 55-61

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