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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Immer die Wahrheit?

In den sich an einen MS-Vortrag anschließenden Diskussionen meldet sich nahezu regelmäßig ein junger Mann oder eine junge Frau zu Wort und klagen mit tränenerstickter Stimme oder wütend darüber, wie allein gelassen sie sich gefühlt haben, als sie von ihrem Arzt über ihre Diagnose aufgeklärt worden seien. Und tatsächlich ist das, was die jungen Menschen erzählen, nicht selten Ausdruck eines kaum glaublichen Mangels an Takt- und Feingefühl. Da wird von einem Arzt berichtet, der einer jungen Frau, die gerade Besuch von ihrem Mann und ihrem Kind hat, über den Krankenhausflur zuruft: „Unser Verdacht auf eine MS hat sich bei Ihnen übrigens bestätigt!" Eine junger Mann, der seinen Arzt, nachdem er ihn über die Diagnose aufgeklärt hat, fragt, was er tun könne, erhält die Antwort: „Da können Sie gar nichts tun, damit müssen Sie leben." Als sich eine Betroffene bei ihrem Arzt beklagte, dass er sie nicht aufgeklärt habe, rechtfertigte er sich, indem er sagte: „Ich sage ja auch keinem Schizophrenen, dass er geisteskrank ist.“ Bewegend ist auch die Schilderung eines Vaters, wie er seine 17jährige Tochter aus dem Krankenhaus abgeholt hat. Kurz vorher habe sie ihr Arzt in sein Untersuchungszimmer bestellt und ihr mitgeteilt, dass sie eine MS habe. Auf ihre Frage, was das denn sei, habe er eine Broschüre aus seiner Schreibtischschublade gezogen und sie ihr gegeben: „Da steht alles viel besser drin, als ich es Ihnen erklären kann. Mit Tränen in den Augen habe sie hinten im Auto gesessen und hilflos in dem Heft geblättert. Andere wiederum beklagen sich, dass man sie überhaupt nicht aufgeklärt habe und die Diagnose zum Beispiel rein zufällig in einer Kurklinik erfahren hätten.

Hier liegt ein offensichtlicher Missstand vor. Kein Arzt lernt in seiner Ausbildung, wie er mit einem solchen Problem umzugehen hat. Auch in den Lehrbüchern steht nichts davon. Man hat den Eindruck, es werde vorausgesetzt, jeder Mensch, der Arzt werden wolle, müsse so etwas aus dem Stegreif können. Nichts ist falscher, wie die oben genannten Beispiele zeigen. Fingerspitzengefühl ist durchaus nicht angeboren. Und dabei ist das erste Gespräch, das der Arzt mit dem oder der Betroffenen führt, in seiner Bedeutung überhaupt nicht zu überschätzen. Denn es ist der erste Eindruck, der prägt und entscheidend ist für das Verhältnis, das der Patient zu seiner Krankheit entwickelt, ob er sie also für ein heimtückisches Übel hält, dem er hilflos ausgeliefert ist, oder für eine Bedrohung, der man sich zwar stellen muss, die man aber auch überwinden kann. Ich weiß, dass in vielen MS-Gruppen eine ausgezeichnete Arbeit geleistet wird, und ich kenne Leiterinnen, die sich sachkundig, gütig und mit einer unglaublichen Geduld um Menschen kümmern, die von Ärzten verängstigt und allein gelassen worden sind. Aber oft ist bereits soviel Porzellan zerschlagen, dass es nur notdürftig gekittet werden kann, und vieles nicht wieder gut zu machen ist.

Ich bin überzeugt, dass viele der Fehler vermeidbar sind, denn es handelt sich um ein Stück praktischer Philosophie, das leicht lehr- und lernbar ist.

Wie geht man aber nun tatsächlich vor? Gibt es Regeln oder wenigstens Anhaltspunkte für das Aufklärungsgespräch? 1991 erschien in der englischen medizinischen Fachzeitschrift "Lancet" ein kurzer Artikel mit dem Titel "Die drei Arten schlechte Nachrichten zu überbringen".

Die erste und schlechteste ist die unverblümte und gefühllose Art. Dabei steht der Doktor meistens in seinem weißen Kittel am Fußende des Bettes und schaut auf den Patienten hinab. Als Entschuldigung führt er an, es komme nicht darauf an, wie man es dem Patienten sage. Egal, wie man es auch anstelle, es würde den Patienten niederschmettern und man würde dafür gehasst werden.

Das genaue Gegenteil ist die zweite Art, die man die freundliche und traurige nennen könnte, Der Arzt nimmt sich viel Zeit und das Gespräch findet in persönlicher Atmosphäre statt, aber die ganze Angelegenheit hat den Touch einer unangenehmen Pflichtübung. Sympathie und Mitleid sind ausgezeichnete Eigenschaften, aber sie können sogar entmutigen, wenn sie übertrieben werden und so klingen, als ob man zu einem Todesfall kondoliere. Ein häufiger Fehler ist, das, was man sich vorher zurechtgelegt hat, wie einen Text, den man auswendig gelernt hat, vorzutragen und dabei den Blickkontakt mit dem Patienten zu meiden, weil man sich selbst unbehaglich fühlt oder geistesabwesend ist - so gibt es wenig oder kein Feedback.

Nicht selten wird auch befürchtet, man könnte falsche Hoffnungen erwecken, und aus dieser Angst heraus werden ermutigende Möglichkeiten nicht erwähnt. Man möchte seriös bleiben und nicht für einen Scharlatan gehalten werden. Manchmal ist es aber auch eine Form von Selbstschutz. Die Befürchtung dabei ist, dass selbst ein schwacher Hoffnungsschimmer das Risiko erhöht, dass sich der Patient oder seine Angehörigen beschweren, wenn die Sache einen schlimmen Ausgang nimmt.

Die dritte Art ist die verständnisvolle und positive. Ihre wesentlichen Bestandteile sind: Flexibilität während des Gesprächs, die auf Feedback basiert, positives Denken, Beruhigung und Pläne für die unmittelbare Zukunft, alles gemischt mit der ungünstigen Botschaft. Diese Art braucht Samthandschuhe und etwas Zeit – aber die langen Pausen betretenen Schweigens gehören eher zur zweiten Art der Aufklärung.

Wie sind meine persönlichen Erfahrungen? Ich erinnere mich noch an eine der ersten MS-Patientinnen, der ich die Diagnose mitgeteilt hatte. Ich hatte mir sehr viel Mühe gegeben und versucht, so behutsam wie nur möglich vorzugehen. Aber ich hatte noch nicht viel Erfahrung. Die Patientin war wie erstarrt; sie nahm nicht mehr wahr, was ich sagte. Ich spürte die Wand, die uns trennte, aber je mehr ich versuchte, ihr mein Mitgefühl zu zeigen, umso undurchdringlicher wurde das, was uns trennte. Ich bin überzeugt, dass unser Gespräch länger als eine halbe Stunde gedauert hatte. Einen Tag später rief die Hausärztin aufgebracht an und beklagte sich, dass ich ihrer Patientin die Diagnose einfach so an den Kopf geknallt hätte. Ich versuchte, mich zu rechtfertigen – ohne Erfolg.

Auch eine andere, nicht weniger bedrückende Reaktion kommt vor. Die Patientin sagt: „Doktor, bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Egal, was es ist, ich will es wissen.“ Sie fühlen sich ermutigt und sagen ihr, was Sie meinen. Und dann beginnt die Patientin zu toben. Sie springt auf, presst sich die Fäuste gegen die Schläfen und schreit: „Nein, das ist nicht wahr. Sagen Sie, dass Sie sich geirrt haben! Nein, nur das nicht! Keine MS, keine MS!“

Meistens ist es aber nicht so schlimm. Die Patientin oder der Patient fragt ruhig: „Glauben Sie, dass es eine MS ist?“ Und ich sage: „Ja.“ Und sie oder er sagt: „Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Was kann ich tun, um das Beste daraus zu machen?“

Soll der Arzt immer die Wahrheit sagen? Rigorose Ethiker sagen ja. In der Praxis fällt es schwer.

Frauke L. hat gerade eben ihr Germanistikstudium in Köln begonnen, als sie an einer Sehnervenentzündung links erkrankt. Die VEP sind links deutlich verlängert. Jetzt sitzt sie draußen und möchte von Ihnen das Ergebnis wissen. Sagen Sie: „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sie eine Sehnervenentzündung haben. Meistens handelt es sich dabei um das Frühsymptom einer MS.“ Oder: „Ich kann Sie beruhigen. Es ist nur eine Sehnervenentzündung. In aller Regel ist das eine einmalige Angelegenheit. Sie brauchen sich also weiter keine Sorgen zu machen.“

Es ist hilfreich, in solchen Fällen die Entscheidung von einer Zusatzuntersuchung abhängig zu machen. Man kann also sagen: „Ich nehme an, dass es sich um eine ganz harmlose Entzündung Ihres Sehnerven handelt. Vorsichtshalber möchte ich jedoch ausschließen, dass noch andere Nervensysteme betroffen sind, und empfehle Ihnen eine Kernspintomographie des Gehirns.“

Sind typische Marklagerveränderungen nachweisbar, muss aufgeklärt werden. Zeigen sich jedoch keine zusätzlichen Herde, neige ich dazu, nicht mit ihr darüber zu sprechen, dass es sich trotzdem um den Beginn einer MS handeln könnte. Aber das ist eine persönliche Entscheidung, die auch problematisch sein kann.

Ein Kollege erzählte mir von einer Pädagogikstudentin, bei der eine eindeutige Opticusneuritis diagnostiziert worden war. Um die junge Frau nicht zu beunruhigen, verzichtete er auf die Erwähnung einer möglichen Beziehung zu einer MS. Ein halbes Jahr später nahm sie ein Angebot an, im Rahmen eines größeren Bewässerungsprojektes im Sudan die Kinder der deutschen Mitarbeiter zu betreuen. Schon nach zwei Monaten musste sie nach Deutschland zurückkehren. Sie hatte einen schweren MS-Schub erlitten. Wenn sie von der Möglichkeit gewusst hätte, an einer MS zu leiden, hätte sie vermutlich anders entschieden und wäre vielleicht von weiteren Krankheitsschüben verschont geblieben.

Wenn die Diagnose einer MS wahrscheinlich oder sicher ist, hat sich die stufenweise Aufklärung bewährt. Der Patient soll seine Diagnose wissen, aber man muss ihm Zeit geben, sie zu verdauen. Man sollte zunächst den Verdacht auf das Vorliegen einer chronischen, entzündlichen Krankheit des Gehirns äußern, vielleicht auch andeuten, dass eine MS nicht sicher auszuschließen sei. Nach zwei oder drei vorbereitenden Schritten fällt es oft viel leichter, die Diagnose zu akzeptieren.

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