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Frage der Woche - Archiv


Was ist eine endogene Depression?

Eine endogene Depression ist eine Traurigkeit, die sich nicht aus der Lebenssituation eines Menschen ableiten lässt, die auch keine Bezüge zu einem Kindheitstrauma hat, sondern unerklärlich und rätselhaft über einen Menschen kommt. Auch wenn ich das Wort „Traurigkeit“ benutzt habe - die Stimmung des endogen Depressiven hat nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem, was wir als Heimweh, Abschiedsschmerz und Trauer empfinden. Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes eine „Seelenfinsternis“.

Ich hatte vor vielen Jahren das Glück, Jan Kuiper, einen Psychoanalytiker aus Amsterdam, anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen kennenzulernen, und er hat mein Leben insofern stark beeinflusst, als er es war, der mich dazu brachte, meine Psychoanalyseausbildung abzubrechen. Er hielt dort eine begeisternde Vorlesungsreihe über die Allgemeine Neurosenlehre. Ich war sehr beeindruckt, und da ich mich damals in einer Krise befand, was mein Verhältnis zur Psychoanalyse anging, fasste ich mir ein Herz und sprach ihn nach einer Vorlesung an. „Wenn Sie Zeit haben, lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen“, sagte er freundlich.Während ich ihm meine Sorgen, Nöte und Zweifel erzählte, war er damit beschäftigt, Regenwürmer, die sich auf dem Trottoir verlaufen hatten, sorgfältig wieder in die Blumenbeete zurückzubugsieren.Auch das hat mich sehr beeindruckt. Er antwortete mir mit großem Ernst, dass er selbst zunehmende Zweifel an der Psychoanalyse hege und riet mir, erst einmal eine Denkpause einzulegen und mich erst danach endgültig zu entscheiden. Ich ging dann in die Neurologie und blieb dort hängen.

Etwa zwei Jahre später entdeckte ich zufällig in einer Buchhandlung ein neues Buch von ihm. Es trug den Titel „Seelenfinsternis“. Darin schreibt er, wie er selbst bis vor wenigen Jahren die Existenz der „endogenen“ Depression abgelehnt habe, bis er selbst daran erkrankte. Seitdem wisse er, dass diese Form der Schwermut nichts, aber auch gar nichts mit einer Neurose zu tun habe. Ganz offensichtlich war er schon zu der Zeit erkrankt, als ich mit ihm in Lindau gesprochen hatte. Das vorherrschende Symptom der endogenen Depression ist das Gefühl der Leere. Gerade weil die Zeit stillzustehen scheint, gibt es keine Hoffnung auf Rettung oder Besserung. Manche Psychiater meinen sogar, dies sei der Kern der endogenen Depression: das Stillstehen der Zeit. Erkennbar ist die endogene Depression an der Antriebsarmut, dem starren, ausdruckslosen Gesicht, der monotonen Sprechweise, den quälenden Gedanken, die immer um dieselben trüben Themen kreisen, den absurden Selbstvorwürfen, den Schlafstörungen und dem „Morgentief“, wenn nach einer durchwachten Nacht der Tag wie ein unwegsames Gebirge vor einem liegt.

Hier helfen keine psychologischen Erklärungen. Diese Depressionen haben ihren Ursprung in einer uns noch unbekannten Störung des Hirnstoffwechsels. Sie bedürfen einer medikamentösen Behandlung. Der Gesunde hüte sich davor zu glauben, er könne sich in die Stimmungslage eines Depressiven hineinversetzen. Auch die tiefste Traurigkeit, die er je erlebt hat, verhält sich zur Melancholie des Depressiven wie eine Pfütze zum Meer.

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