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MS-Forum Dr. Weihe

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Frage der Woche - Archiv


Warum bin ich immer so müde?

Seit einiger Zeit bin ich vom Schlaf verfolgt. Das heißt, obwohl ich nicht arbeiten gehe, nur den Haushalt mache, könnte ich 24 Stunden nur schlafen, was mittlerweile sogar meine Beziehung beeinflusst. Mein Partner arbeitet in zwei Schichten, und ich bin diejenige, die müde ist.

Die Müdigkeit ist eines der häufigsten und fast immer verkannten MS-Symptome. Manche Patienten sagen, dass sie sich wie eine leere Batterie fühlen, die man immer wieder auflädt, die aber gleich wieder erschöpft ist.

"Jede Nacht, wenn ich im Bett liege, gehen die Gedanken in meinem Kopf herum wie in einer Mühle: Wie soll ich das morgen nur schaffen?", klagt eine junge Frau. "Es gibt niemanden, mit dem ich darüber sprechen kann. Meine Mutter meint, ich müsse versuchen, gegen die Krankheit anzukämpfen und mich nicht unterkriegen zu lassen. Aber das hilft mir nichts. Was mich am meisten quält, ist das Gefühl, dass man heimlich glaubt, ich mache es mir mit meiner Krankheit ganz schön bequem."

Für die schnelle Erschöpfbarkeit der MS-Betroffenen gibt es viele Gründe, darunter die folgenden sechs:

  1. Weniger Muskelfasern leisten die Arbeit, die sonst alle tun.
    Jeder größere Muskel besteht aus Tausenden von Muskelfasern. Jeweils 100 - 200 davon werden von einer Nervenfaser versorgt. Sterben einzelne Nervenfasern ab, fällt dementsprechend das Vielfache an Muskelfasern aus. Die Ausfälle sind jedoch über den ganzen Muskel verstreut, so dass sie erst bei längerer Belastung auffallen.
  2. Durch die teilweise Verzögerung der Nervenimpulse, arbeitet die Muskulatur nicht mehr reibungslos.
    Die Schwächung der Muskeln ist das eine, die gestörte Koordination der Muskeln untereinander das andere. Auch sie kann bei geringer und kurzer Belastung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben. Die elektrischen Impulse stauen sich an entmarkten Nervenabschnitten, kommen verzögert am Zielmuskel an und arbeiten ständig gegen einen Widerstand, da sie sich in das Gesamtgefüge des Bewegungsablaufes nicht mehr reibungslos einordnen. Auch wenn keine Schwäche oder Lähmung sichtbar ist, kann der Muskeltonus im Sinne einer leichten Spastik schon leicht erhöht sein, so dass die Bewegungen zäher und anstrengender sind, wie bei jemandem, der versucht, in knöcheltiefem Wasser zu laufen.
  3. Alltägliche Handlungen verlaufen nicht mehr "wie im Schlaf", jeder Bewegungsablauf bedarf der erhöhten Konzentration.
    Zu den Störungen, die die Muskulatur selbst betreffen, kommt, dass jede noch so alltägliche Situation der erhöhten Konzentration bedarf. Nichts läuft mehr "wie im Schlaf", selbst einfache Tätigkeiten, wie das Abspülen des Geschirrs, bedarf der angespannten Aufmerksamkeit. Sie müssen genau darauf achten, wie sie ein Glas oder einen Teller anfassen, weil diese Abläufe nicht mehr so automatisch und verlässlich sind, auch wenn z.B. das Gefühl in den Fingerspitzen nur diskret herabgesetzt ist. Viele Patienten klagen, dass sie in Gesellschaften rasch ermüden, weil sie im Stimmengewirr Mühe haben, die Hintergrundsgeräusche auszublenden. Auch merken sie, wie ihr Gleichgewichtssinn im Laufe des Tages nachlässt. Dann nehmen sie gerne mal einen Türrahmen mit und stolpern häufig. Alles, was wir "mit links" erledigen, müssen sie mit größerer Sorgfalt tun.
  4. Herde im Hirnstamm können die Funktion des "Wachzentrums" beeinträchtigen.
    Für die Aufmerksamkeit, aber auch für das Wachen und Schlafen, ist im Hirnstamm ein weitverzweigtes Netz von Nervenzellen, die Formatio reticularis, zuständig. Die Impulse, die von hier ausgehen, regen die Aktivität der Hirnrinde an oder bremsen sie. Meines Wissens nach gibt es keine Untersuchungen darüber, ob MS-Kranke mit Hirnstammherden häufiger und intensiver unter Müdigkeit leiden als andere, aber ich könnte es mir gut vorstellen. Es ist auch denkbar, dass sich hier so winzige Schädigungen befinden, dass sie sich dem Nachweis im Kernspintomogramm entziehen. Diese erhöhte Aufmerksamkeit, das ständige Ankämpfen gegen einen Widerstand in einer nicht mehr reibungslos funktionierenden Muskulatur und die verminderte Zahl aktiver Muskelfasern erklären die rasche Entwicklung der MS-typischen Müdigkeit. Sie tritt nicht wie beim Gesunden allmählich in Erscheinung, sondern gleicht einem Radfahrer, der mit angezogener Handbremse fährt. Er tritt zunächst kräftig in die Pedale, ist aber bereits nach zwei oder drei Minuten völlig erschöpft.
  5. Schon ein leichter Anstieg der Körpertemperatur stört die Nervenfunktion in MS-Herden.
    Vermutlich spielt aber auch das Uhthoff-Phänomen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Körpertemperatur nimmt als Folge einer körperlichen Anstrengung zu und schwankt auch im Laufe des Tages. Gegen Abend liegt sie um ein halbes Grad höher als morgens. Vielleicht ist das der Grund, warum viele MS-Betroffene so früh ins Bett gehen.
  6. Der MS-Betroffene befindet sich in einem Stadium der chronischen Rekonvaleszenz.
    Die Müdigkeit ist Ausdruck des unaufhörlich stattfindenden Abwehrkampfes gegen den unbekannten MS-Erreger. Wir müssen uns den MS-Kranken als einen chronisch Rekonvaleszenten vorstellen. Sein Zustand ist am ehesten mit dem eines Menschen zu vergleichen, der eine akute Lungenentzündung überwunden hat. Er ist auf dem besten Wege, wieder gesund zu werden, aber er ist es eben noch nicht ganz. Und die Mattigkeit, die ihn lähmt, ist durchaus kein unnützes Symptom, sondern hat ihren Sinn. Sie zwingt den Genesenden, die Ruhe einzuhalten, die der Körper braucht, um die Krankheit vollständig zu überwinden. Bei der MS könnte es ähnlich sein. Dann wäre das Müdigkeitssyndrom nicht nur ein lästiges Symptom, sondern eine vernünftige Stimme des Körpers, die den Patienten schützt und vor Überlastungen warnt.
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